Eine Truhe aus der Zeit vor dem 30-jährigen Krieg erzählt Geschichten

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November. Draußen wird es kälter, ungemütlicher. Zeit um sich zuhause im Schein einer Kerze, des Kaminfeuers oder einer Lampe auf das Sofa zu kuscheln und sich Geschichten erzählen zu lassen. Winterzeit ist Geschichtenzeit und die Quelle der Geschichte kann vielfältig sein: ein gutes Buch, der Fernseher, soziale Medien… Aber haben Sie schon mal Ihren Möbeln gelauscht? Auch diese können eine Geschichte erzählen: Neue Möbel erzählen eher Kurzgeschichten, Betten gerne Liebesgeschichten, und manch ein Möbel erlebte eine Kriminalgeschichte. Diesen Monat wollen wir uns eine historische Geschichte erzählen lassen. Ein kostbarer Zeitzeuge – eine Renaissance-Truhe von ca. 1535 – wird uns in die damalige Welt entführen. Lehnen Sie sich zurück, machen Sie es sich gemütlich und genießen Sie den novellistischen Ausflug in eine andere Zeit. Denn November ist Geschichtenzeit.

Eine Renaissancetruhe erzählt aus dem 16. Jahrhundert

Man hört es so oft: Früher war alles besser. Nun das würde ich so nicht sagen. Früher war alles anders. Zum Beispiel die Selfies. Zu meiner Zeit, also 1535 bis 1540 – bitte entschuldigen Sie diese kleine Ungenauigkeit, aber nach so langer Zeit wird das Gedächtnis etwas unscharf und nunja damals nahm man es mit den Daten auch noch nicht so genau wie heutzutage – 1530 also ungefähr, da gab es noch keine Fotografie. Auch keine Videos. Um es deutlich zu sagen: Ich entstand in einer smartphone- und tabletfreien Welt, weit entfernt von Selfies und ähnlichen Dokumentationsmöglichkeiten. Aber auch damals hatten die Menschen das Bedürfnis Ereignisse und Erlebnisse zu verewigen. So griff man zwangsläufig zu anderen Mitteln. Sehen Sie mich an. Sehen Sie sich mich genau an. Ich bin ein Zeitzeuge, die Geschichte steht mir – sozusagen – ins Gesicht geschrieben. All diese Schnitzereien auf meiner Oberfläche sind Dokumente der damaligen Ereignisse. Und Bilder sagen mehr als tausend Worte. Doch lassen Sie mich trotzdem erzählen. Von damals und von den Bildern. Was meine Herstellung und die Darstellungen auf meinem Korpus nur indirekt verraten, ist meine Herkunft und meine Entstehungszeit.

Ich bin alt. Und ich meine wirklich alt. Etwa 480 Jahre. Entstanden im 16. Jahrhundert. Hach, das waren noch Zeiten damals. Große Zeiten mit großen Kaisern und großen Kriegen. (Nunja, Letzteres finden wir heutzutage auch noch. Aber damals war es eben anders.) Das 16. Jahrhundert: Ende des Mittelalters, Beginn der Renaissance, des Humanismus. Und was für große Politiker, Künstler und Entdecker waren das zu meiner Zeit: Niccoló Machiavelli, Süleyman I. der Prächtige und Iwan IV., der Schreckliche; Leonardo da Vinci, Michelangelo Buonarroti und Raffael; Christoph Kolumbus, Nikolaus Kopernikus, Paracelsus und der sprichwörtlich gewordene Adam Ries. Eine fruchtbare Zeit voll Entdeckungen und Wandlungen. Und zu meiner Entstehungszeit brannte gerade ein politisch-religiöses Ereignis im lodernden Lichte: Luthers Reformation der christlichen Kirche. Mit einem dramatischen Akt begann 1517 die Reformation mit dem Anschlag der 95 Thesen von Luther an die Schlosskirche zu Wittenberg.

Das Motiv der Schrift finden Sie mehrfach auf mir verbildlicht. Zum einen in den Schriftrollen, die die Frauen in der Hand halten. Des weiteren in den Schrifttafeln, die der Jüngling auf dem Pferd in der Hand hält, aber auch in der Symbolik und Mythologie des Kranichs. „Es heißt, dass die Kraniche das Geheimnis um das Ogham (das Keltische Baumalphabet) hüten und der keltische Gott Ogma die Oghamschrift erfunden haben soll, nachdem er den Flug der Kraniche beobachtet hatte.“ (Quelle). Die mittelalterliche Symbolik orientierte sich stark an solchen Mythen.

Aber ich bin kein Kelte. Ich stamme aus der Region von Flandern, das ist der nördliche Teil Belgiens, bzw. die mehr oder weniger angrenzende Region des Niederrheins (Deutschland). Damals gehörten diese Landschaften zum Habsburger Reich unter Kaiser Karl V. (Ich bin sozusagen ein Habsburger, darauf kann man schon stolz sein.). Wissen Sie wer Karl V. war? Nein? Nun, er selbst beschrieb sich wie folgt: „Römischer König, zukünftiger Kaiser, immer Augustus, König von Spanien, Sizilien, Jerusalem, der Balearen, der kanarischen und indianischen Inseln sowie des Festlandes jenseits des Ozeans. Außerdem Erzherzog von Österreich, Herzog von Burgund, Brabant, Steier, Kärnten, Krain, Luxemburg, Limburg, Athen und Neopatria, Graf von Habsburg, Flandern, Tirol, Pfalzgraf von Burgund, Hennegau, Roussillon, Landgraf im Elsass, Fürst in Schwaben, Herr in Asien und Afrika“ (Quelle).

Ich sagte doch: Damals war alles groß. Sogar der Titel. Stellen Sie sich einmal vor, Karl V. müsste diesen Titel auf seinem Personalausweis aufführen. Doch wo war ich? Ach ja, bei dem Problem mit Luther (und damit meine ich nicht Luthers Abneigung gegen dreizinkige Gabeln). Die Habsburger waren katholisch, bis auf wenige Ausnahmen waren sie sogar streng katholisch. Auch „Karl war wie die meisten seiner Familienmitglieder sehr religiös, er träumte von einer vereinten Christenheit. Doch die Entwicklung der Zeit lief in eine andere Richtung: Die Reformation breitete sich aus“ (Quelle). 1521 findet dann das Konzil von Worms statt und Kaiser Karl V. verhängt die Reichsacht über Martin Luther. Bringen wird das langfristig nichts, die Reformation war nicht mehr aufzuhalten, aber einen Versuch war es damals wert. Ein bewegendes Ereignis, an was mich die Schriftsymbole erinnern.

Die Mode

Hach ja, insgesamt waren das lebhafte Zeiten. Nehmen Sie z.B. die Mode. Haben Sie schon einmal von den Landsknechten gehört? „Die deutschen Landsknechte waren Söldner mit einem beachtlichen Ruf, die durch das Europa des späten 15. und 16. Jahrhunderts zu einer wichtigen Militärmacht wurden.“ (Quelle). Gegründet wurde diese Streitmacht übrigens von Maximilian I., dem Großvater von Karl V.. Diese Soldaten waren nicht nur Helden der Schlacht, sondern auch Helden der Mode. Um sich von den engen Kleidungen zu befreien, die die Bewegungsfreiheit stark einschränkten, schlitzen sie die bisherigen Trachten auf und unterfütterten die Schlitze mit andersfarbigen Stoffen. Auch die Kopfbedeckung gewann an wallenden Farben und Formen. Dieser neue Kleidungsstil gewann mehr und mehr Bedeutung für den Normalbürger auf den Straßen. Das hatte zwei Gründe: Erstens wurde die neugewonnene Bewegungsfreiheit gerne mit der humanistischen Aufklärung und der Freiheit des Geistes verbunden. Auch die Bartmannsgesichter erinnern mich daran, dass freien Männern in der Renaissance erlaubt war, Bärte zu tragen. Zweitens änderte sich in der deutschen Renaissance das Schönheitsideal. „Mollig war jetzt schick, da man seinen Reichtum dadurch zeigen konnte. Die Breite wurde betont. Dies erreichte man durch breite Schuhe (Kuhmaulschuhe), üppigere Proportionen usw.“ (Quelle). Oder eben durch aufgeschlitzte, wallende Gewänder, wie die der Landsknechte. Mode war damals eher Männersache. Aber auch die Frauen mussten etwas anziehen. Miniröcke und bauchfrei standen jedoch nicht zur Diskussion. Wie gesagt: Früher war nicht alles besser. Nur anders: „Der vorgewölbte, bauschige Rock, die erhöhte Taille, ein breiter Schulterkragen und mehrfach gepuffte Ärmel kennzeichneten den Renaissancestil der Damenmode in Deutschland. Auf dem Kopf verdeckte eine schlichte Haube das Haar.“ (Quelle). Betrachten Sie die Personen-Darstellungen auf meiner Front. Können Sie dort nicht all diese Details der zeitgenössischen Mode entdecken?

Schnitzereien

Was fällt Ihnen noch auf? Achja. Die maritimen Symbole. Die Schnitzereien, welche an herunterlaufende Wassertropfen erinnern. Kraniche mit Fischschwänzen, ein Jüngling mit Dreizack auf einem Seepferd und die bärtigen Männer auf meiner Front, die mit etwas Fantasie an Wasserspeier erinnern. Obwohl dies typische gotische Symbole sind, erinnern sie mich doch an große Ereignisse in der Renaissance. Der Kranich ist ein symbolträchtiger Vogel. Nicht nur die Schrift und die Wachsamkeit symbolisiert er. „In Irland erbaten Bauern von der Göttin Manannan, die einen Beutel aus Kranichhaut mit den Schätzen des Meeres trug, gute Saat und die Seefahrer eine gute Reise“ (Quelle). Hach ja, die Seefahrt zu meiner Zeit, die war gerade in großer Mode. Die Renaissance war das Zeitalter der Entdeckungen: „CHRISTOPH KOLUMBUS entdeckte Amerika. VASCO DA GAMA fand den Seeweg nach Indien. Der Portugiese CABRAL landete mehr irrtümlich an der südamerikanischen Küste des heutigen Brasilien. FERNANDO MAGELLAN und nach ihm der Engländer FRANCIS DRAKE umsegelten die Erde.“ (Quelle).

Jaja, eine große Zeit. Entschuldigen Sie. Ich fürchte, ich wiederhole mich.
Aber bedenken Sie, wie alt ich bin. Ich weiß, man sieht mir mein Alter kaum an. Die paar Fältchen und Schwundrisse, werden Sie denken. Und doch, was ich alles erlebt habe. Geschichten könnte ich Ihnen erzählen. Geschichten.

Weitere Quellen: